Ingeborg Bayer
Stadt der
tausend Augen
R o m a n
DAS FERNE LAND
Seite 261
SWANT
Der Ort hieß Swant. Er lag an der Kreuzung zweier Handelsstraßen, von denen die eine von Nürnberg südlich nach Augsburg führte und die andere südöstlich in die Länder entlang der Donau.
Sie erreichten das Dorf am frühen Abend eines kalten Februartages.
Sie könnten baden, hatte der Wirt der Erbschankstätte „Zum Schwan“ gesagt, in der sie abgestiegen waren, die Badstube sei geöffnet, im Büttelhaus, und das Bad koste bei ihnen nur drei Pfennige. Riccardo hatte abgelehnt, wollte es entweder später tun oder gar nicht, Crestina dagegen war gegangen, hatte sich mit Lust in den Zuber fallen lassen, genoß die Wärme des Wassers und hätte am liebsten hier den ganzen Abend verbracht, weil sie keinesfalls sicher war, daß die Wirtsstube gemütlich sein würde. Als die Badmagd kam, um ihr den Rücken einzuseifen, hatte sie über Venedig geredet. Ob es wirklich eine solch wunderbare Stadt sei, wie jedermann erzähle, hatte die Magd wissen wollen. Und wenn sie genug Geld dafür hätte, dann würde sie ganz sicher dort hinfahren. Mit ihrem Liebsten natürlich, der in Nürnberg diene. Die nächste halbe Stunde war dann ausgefüllt mit der Lobpreisung dieses Liebsten, und eine weitere galt den Sehenswürdigkeiten Nürnbergs, der Stadt, in der die Magd geboren war.
Vergeßt nicht den Ring zu drehen! sagte sie am Ende lachend, als Crestina bereits unter der Tür stand. Laßt ihn euch zeigen. Und daß man ihn zusammen mit dem Liebsten sehen muß und auch ausprobieren, fügte sie dann noch hinzu.
Nach dem Nachtessen dann, in ihrem Bett, das feucht und klamm war - Wanzen schienen es außer ihr auch noch zu bewohnen -, sah Crestina dieses Nürnberg vor sich, das die Badmagd beschrieben hatte. Vierhundert Türme sollten es sein, zumindest sage man das, sie habe sie freilich noch nicht gezählt.
Crestina sah diese Türme aneinandergereiht, eine backsteinerne Mauer, die Menschen umschloß, wohl Geborgenheit geben sollte, bei ihr jedoch im Augenblick nichts anderes als Angstgefühle auslöste. Diese Stadt, in die sie morgen gehen würden, empfand sie als eine Stadt, so groß, mächtig und gewaltig, daß sie sich bereits unterworfen fühlte, noch bevor sie auch nur einen Fuß hinter ihre Mauern gesetzt hatte. Und sie fragte sich voller Ratlosigkeit, was sie hier überhaupt wolle.
Als die Kutsche am späten Nachmittag des folgenden Tages das Stadttor passiert hatte und sie eine lange Straße entlang fuhren, glaubte Crestina, das Haus der Helmbrechts, so wie es Lukas beschrieben hatte, am Straßenende zu erkennen.
Das wird es sein, sagte sie und deutete auf ein Gebäude, das sich durch seine Prächtigkeit eindeutig von den anderen unterschied.
Für Hinweise und Hilfe danke ich:
In Deutschland dem Generallandesarchiv Karlsruhe, der Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg, dem Staatsarchiv Nürnberg, dem Archivar des Stadtarchivs in Sulzburg und dem kleinen Museum der Erbschänke Zum Schwan;
"Waschzettel:"
Venedig und Nürnberg im 17. Jahrhundert – ein vielschichtiges Historiengemälde, dessen Atmosphäre und Lebendigkeit sowohl erstaunen als auch erschrecken. Die einfühlsame Sprache, der dramatische Zugriff und der engagierte Umgang mit brisanten Themen prägen einen Roman, dessen Facettenreichtum das Damals transparent macht, aber auch die Brücke zum Heute schlägt. Ein großer historischer Roman, in dessen Mittelpunkt zwei starke Frauen stehen.
“Die ‚Stadt der tausend Augen‘ ist ein engagiertes Buch, nicht einfach Unterhaltungsroman. Im Schatten der Geschichte stehende Menschen werden im Licht einer literarischen Deutung sichtbar.”
Süddeutsche Zeitung
Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München
ISBN 3-426-60095-1
Knaur 60095
Schwanstetten im März 2017
Alfred J. Köhl